Katastrophen
Der fortschreitende, aber etwas schläfrig gewordene Brand sprang wie ein hundertköpfiges Untier wütend auf, zischte mit Flammenzungen durch die Fensterlöcher und spie unzählbare Funken empor, Funken in allen Grössen vom Leuchtwürmchen bis zum brennenden Papierdrachen, ein dichtes Glutgestöber, das der Sturm hoch durch den nächtlichen Himmel nach Osten trieb. Ich konnte nicht mehr stillstehen; überwältigt von diesem Schauspiel und neu entfacht begann ich zu tanzen.»
«Geordnete Verhältnisse und günstige Umstände bewahrten mich vom achten bis zum dreizehnten Jahre vor allzu heftigen Schlägen. Die gesunde, unbefangene Art meiner Eltern und Grosseltern schien jetzt als Erbteil in mir wirksam zu werden, und die heitere Sicherheit meines Vaters umgab mich nach der wechselvollen Morgendämmerung meiner Kinderjahre wie das klare Tageslicht», schreibt Inglin am Anfang des zweiten Teils des Amberg-Romans.
Freilich erweist sich diese vergleichsweise ungetrübte Periode nur als Anlaufstrecke zu einem umso schrecklicheren Absturz: 1906 verunglückt der Vater am Tödi. Die Auswirkungen dieses plötzlichen Todes sind nicht abzuschätzen. «Mir lag wenig daran, weiterzuleben», heisst es im Amberg: «Ich fand mich, zum Selbstbewusstsein erwachend, von dunklen Mächten verfolgt, die mir schon immer aufgelauert hatten, die mich schlugen und zeichneten, und ich konnte es endlich vor der Welt nicht mehr verbergen.»
Das Fehlen des weltoffenen, künstlerisch begabten, vermittelnden Vaters wirkte sich auch bei der Berufswahl für den Dreizehnjährigen verhängnisvoll aus. An seiner Statt hatten nun plötzlich Verwandte mitzureden, deren Überlegungen sich auf das Praktische und Nächstliegende beschränkten: man will den Erstgeborenen, ohne Rücksicht auf seine Neigungen, zum Nachfolger für das väterliche Uhren- und Bijouteriegeschäft ausbilden, ein Plan, der erst vier Jahre später, nach dem Tod der Mutter, endgültig aufgegeben wird. 1910 heisst in Inglins Notizen nicht nur wegen dieses zweiten einschneidenden Verlusts das «Katastrophenjahr»; die erwartete Wiederkunft des Halleyschen Kometen verbreitet Weltuntergangsstimmung, schon bevor am 3. April das Schwyzer Kollegium ausbrennt. Am selben Tag trifft die Nachricht vom unerwarteten Tod eines Onkels ein; eine ähnliche Parallelität von privatem und öffentlichem Unglück erlebt Inglin am 13. Juni, als die Mutter stirbt und nur Stunden später die grosse Muotaüberschwemmung einsetzt: «… es war das schicksalhafte allgemeine Unheil, das sich von meinem persönlichen nur der Form nach unterschied.»
Das Unberechenbare, das in die geordnete Welt einbricht, hat freilich gerade für einen, der mit diesen Ordnungen seine Mühe hat, über alle Schrecken hinweg eine befreiende Wirkung; Werner Amberg tanzt vor dem brennenden Schulgebäude den Narrentanz, und der Ausbruch des Weltkriegs löst, mindestens für den Augenblick, die Berufsprobleme von Paul und Fred Ammann. Das «Katastrophenjahr» ermöglicht dem jungen Inglin einen Neuanfang.