Umwege

Du hast bisher, dem Rate Deiner sel. Eltern und des Vormundes folgend, mehr instinktiv als reflexiv, verschiedene Lebensrichtungen eingeschlagen, Deine wachsende Sehnsucht und Deinen inneren Drang fast gewaltsam niedergehalten, wider alle Hoffnung gehofft, – aber Dein Glück nicht gefunden.»

Dominicus Abury an Meinrad Inglin, 22.8.1911

Dass Inglin «schreiben müsse, um glücklich zu werden», ist ihm schon im ersten Realschuljahr klar geworden. Dichter aber ist kein Beruf, zumindest nicht in den Augen seiner Umgebung. «Sobald du einen Beruf erlernt hast und dein Brot selber verdienst, kannst du dichten soviel du willst», sagt der Vormund im Amberg-Roman.

Nach dem Scheitern an der technischen Abteilung des Schwyzer Kollegiums hat Inglin also eine Uhrmacherlehre anzutreten, um später das väterliche Geschäft zu übernehmen. Die Lehre beim Uhrmacher Donauer in Luzern überdauert freilich die dreiwöchige Probezeit nicht, da der Meister unschwer erkennt, dass sein Lehrling «weder besonderes Talent noch Lust und Liebe zu unserem Berufe zeigt», dies, obwohl Inglin zeitlebens den «Handwerker, der mit Geschick etwas Brauchbares oder gar Schönes herstellt», besonders hoch einschätzte.

So wird nach dem Tod der Mutter das Geschäft des Vaters verkauft und die Wohnung geräumt, und Inglin findet mit seinem Bruder Aufnahme im «Grund» bei seiner Tante Marguerite Abegg-Eberle, der jüngeren Schwester seiner Mutter. Die Verwandtschaft drängt erneut auf eine Berufswahl; Inglin erwägt wegen seiner naturwissenschaftlichen Interessen ernsthaft, Tierpräparator zu werden oder «in der Hoffnung auf ein Leben im Walde» Förster. Mit beidem ist der Vormund nicht einverstanden.

Von einem Ferienaufenthalt im wiederaufgebauten Axenstein kommt Inglin «mit Hotelgedanken nach Hause» und beginnt im September 1910 als Saalkellner bei Verwandten im Luzerner Hotel Beaurivage. Einer kurzen Ausbildungszeit an der Luzerner Hotelfachschule folgt eine Wintersaison im Grandhotel Caux; dort arbeitet er bis zur Erschöpfung, verlässt die Stelle mit einem guten Zeugnis und kehrt, obwohl er genau weiss, dass dies nicht sein Weg sein kann, im Frühling als Saalkellner ins Beaurivage zurück.

«Ich kann mich vorzüglich verwandeln und den Kellner schauspielern, nur darf es nicht zu lange dauern, sonst reklamiert und protestiert ein anderer in mir und quält mich solange, bis ich es nicht mehr glaube ertragen zu können»: dieser äusserste Punkt ist im Sommer 1911 erreicht, als er sich vom Hoteldach stürzen will. Der glanzvolle Morgen über dem See und eine Musik, die er später als Ouvertüre zu Figaros Hochzeit erkennt, halten ihn zurück.

Auf der Suche nach einem Ausweg schreibt er 1911 zwei Briefe: einen an seinen ehemaligen Deutschlehrer im Kollegium, ob es einen Weg gebe, die immer wieder unterbrochene Schulbildung nachzuholen, um so bald als möglich an einer Universität studieren zu können, den andern an eine Hoteldirektion in Genua, worin er sich um eine Saalkellnerstelle bewirbt, freilich mit dem Hintergedanken, von dort aus mit dem nächsten Schiff nach Amerika zu verschwinden. Schreiben wird er auf jeden Fall; das Schicksal soll nur entscheiden, «ob es einen gebildeten bürgerlichen Schriftsteller oder einen heimatlosen Dichter und Abenteuerer» aus ihm machen will. Die Antwort von Professor Abury, der an Inglins literarische Berufung glaubt, bringt die Entscheidung; Inglin kündigt im Beaurivage und kehrt nach Schwyz zurück, wo er dank Abury in die 4. Gymnasialklasse eintreten kann und die Schule, wenn auch ohne Matura, beendigt.

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