Fokusthemen

Heimatdichter oder Nestbeschmutzer?

Wir leben im Paradies, mein Lieber! Aber dieses Paradies stinkt zum Himmel, und wer eine etwas feinere Nase hat, der hält es nicht mehr aus.»

Meinrad Inglin: Schweizerspiegel (1938)

Heimatdichter oder Nestbeschmutzer? Inglin wird und wurde als beides betitelt. Doch wer ins Werk des Schwyzer Dichters eintaucht, wird keine Schwarzweissmalerei entdecken. Augenfällig ist, dass gerade die Heimkehrer zu Inglins Lieblingsfiguren gehören. Sie haben einst Heimat und Tradition den Rücken gekehrt und begegnen ihnen unabhängig und mit neu gewonnener Freiheit und Distanz.

Ablehnung und Skandal

Inglins erster Roman Die Welt in Ingoldau, erschienen 1922, schlägt in der Heimat ein wie eine Bombe und löst einen Skandal aus. Seine Umgebung liest das Buch als Schlüsselroman und ist empört. Der Roman wird von der Kanzel herab verurteilt, darf nicht mehr verkauft werden und wird sogar verbrannt. Der Autor muss Schwyz für einige Zeit verlassen, auf dem Heimweg vom Dorf drohen ihm Steinwürfe aus dem Hinterhalt.

Mutter Natur und Vaterland

Trotz der Ablehnung und Verfolgung, die ihn schwer trafen und das ohnehin zwiespältige Gefühl zum Ort seines Herkommens verstärkten, bleibt Inglins Lebensmittelpunkt zeitlebens der Talkessel von Schwyz. Inglin scheint mit der ihn umgebenden Landschaft gleichsam verwurzelt. Sein Lob des Vaterlands, das er Ende der Zwanzigerjahre verfasst, wird er aber später selber nicht mehr gelten lassen, da die Begrifflichkeiten im Zuge der Blut-und-Boden-Ideologie der Nazizeit einen mehr als schalen Beigeschmack bekommen haben. Er sucht damals die Heimat im Ursprünglichen, in der Verbindung zwischen Mensch und Natur und damit vor allem in der bäuerlichen Tradition – Mutter Natur also statt Vaterland?

Die Natur bietet Inglins verzweifelten Helden Schutz und Geborgenheit und Werner Amberg im gleichnamigen Roman ist es, als sei er «nicht in Bett und Stube, sondern hier geboren und aufgewachsen». Dem Vaterland und der Verantwortung «der realistischen Gegenwart» stellt sich Inglin erst allmählich mit der Arbeit am Stoff des Schweizerspiegels. Die Ursprungssagen der Entstehung der Eidgenossenschaft in Jugend eines Volkes will er ausdrücklich nicht als patriotisches Unterfangen sehen, sondern neben der Begeisterung für den «grossartigen Stoff» als «Lust, der Zeit davonzulaufen, um im Unbekannten mit aller dichterischen Freiheit neu anzufangen».

Beheimateter Aussenseiter

Im Gegensatz zu den Heimkehrern seiner Romane Wendel von Euw und Erlenbüel, deren Wiedereingliederungsversuche in die gesellschaftliche Ordnung scheitern, ist Inglin das Leben in der heimatlichen Gesellschaft gelungen. Seine Fähigkeit, als Künstler gleichzeitig darin und darüber zu stehen – eine Art innere Distanz – erlaubt es ihm, «in der dörflichen Gemeinschaft von Schwyz … ebensosehr als Beheimateter, wie mit dem Gefühl eines Entfremdeten» zu leben, «in einem gewissen attraktiven Protest, den auch viele seiner Helden suchen: Indem sie ins Bekannte zurückgehen, wohl wissend, dass sie es im Grunde ebenso ablehnen wie lieben», so Inglins Biografin Beatrice von Matt. «Wer sich nie gelöst hat», schreibt Inglin, «bleibt befangen und wird zu seiner heimischen Erbschaft kaum das freie schöpferische Verhältnis finden, das einem wachen Geist und kritischen Sinn entspricht». Inglin hat nicht die äussere Flucht in die Fremde gewählt, seine Befreiung war vielmehr eine innere. Er habe «weitherum alles vor den Kopf gestossen, um die nötige Distanz und innere Freiheit zu gewinnen», schreibt er gut fünfzigjährig. Der Künstler und nach Inglins Meinung der Mensch überhaupt muss notwendigerweise eigenrichtig sein. Es kommt auf den einzelnen an – auch und gerade in einer demokratischen Gemeinschaft. Aber wer kein heimatloser Dichter und Abenteurer werden will, wird versuchen, das Eigene und das Herkömmliche wenigstens zeitweise in ein labiles Gleichgewicht zu bringen.

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