Der Eigenrichtige und die Demokratie

Sonst, in friedlichen Zeiten, laufen wir ja alle nach allen Richtungen und stehen und gehen wo wir wollen, wie die Leute in andern Ländern auch, aber wenn die Wölfe am Grenzhag heulen, müssen die Verlaufenen wieder zusammenstehen; erst dann zeigt sich, ob sie noch ein Volk sind, das sich gemeinsam wehren und gemeinsam die Not überwinden kann.»

Meinrad Inglin: Jugend eines Volkes (1933)

Der schwierige Ausgleich zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und den Forderungen der Gemeinschaft hat Inglin immer wieder beschäftigt. Es geht ihm dabei um mehr als um die übliche Künstlerproblematik, die er nur in seinen frühen Entwürfen gelegentlich gestaltet hat; im Zentrum steht das Recht jedes Menschen auf seine Eigenrichtigkeit.

Zwar ist der rücksichtslose Kult des eigenen Ich, zu dem beim ganz jungen Inglin in der Nachfolge Nietzsches Ansätze vorhanden wären, bereits in Ingoldau ersetzt durch das Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Individuum, aber entscheidend bleibt der Einzelne, der bereit ist, sein Leben zu wagen für das, was er als das Rechte erkennt. Der Einsatz legitimiert die Eigenrichtigkeit und ermöglicht die fruchtbare Wechselwirkung zwischen dem Willen des Einzelnen und der Tradition. Denn jede Ordnung ist starr und bedroht dadurch in einer sich wandelnden Welt das «ewige Recht», «als Mensch auf seiner Erde frei zu leben und das Mass der Dinge zu sein», und es ist Aufgabe jeder neuen Generation, als «Mass und Mitte» wieder den Menschen einzusetzen.

Das bürgerliche Sicherheitsbedürfnis, das Dauer durch zementierte Ordnungen garantieren will, erweist sich so a priori als dem Menschen nicht gemäss, als unmenschlich, und die zähen demokratischen Strukturen bedürfen der ständigen Revision wie am Schluss des «Ehrenhaften Untergangs», wo sich der Verstand der Wenigen zum allgemeinen Nutzen gegenüber dem Unsinn der Mehrheit durchsetzt und zwischen dem Zählen und dem Wägen der Stimmen sozusagen eine Mischrechnung gemacht wird.

Eine «erträgliche Menschengemeinschaft» müsste sich aus selbstverantwortlichen Einzelnen zusammensetzen; als Vorbild eines solchen schildert Inglin im Amberg seinen eigenen Vater: «Er gehörte zur liberalen Partei, dachte skeptisch über den unbedingten Anspruch politischer Meinungen und verabscheute Unduldsamkeit und Rechthaberei. Diese Sinnesart bezeugte er freimütig auch dann, wenn sie ihm schadete, sie entsprang nicht der Schwäche, sondern der Einsicht in das Bedingte, Fragwürdige menschlichen Denkens und Treibens, und war mit jener gesunden Urteilsfähigkeit verbunden, die in einem demokratischen Gemeinwesen zwischen schwungvollen Hitzköpfen und eigensüchtigen Nutzniessern immer wieder entscheidend ins Gewicht fallen muss.»