Der Erste Weltkrieg
Was ich von diesen vier Grenzdienstjahren am eigenen Leib erlebte und an weltgeschichtlichen Vorgängen Anteil nehmend mitfühlte, mitdachte, kam mir also damals nicht als Stoff zum Bewusstsein, der zu gestalten wäre, ja mir schien noch jahrelang nachher, als ob ich halb betäubt nur eben so mitgeschwommen wäre und inzwischen alles vergessen hätte. Ich hatte gar nichts wirklich vergessen. Als ich später am Schweizerspiegel zu arbeiten begann, stand mir sowohl das Ganze wie jede beliebige Einzelheit so anschaulich zur Verfügung, wie ich es nur haben wollte.»
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist Inglin 21 Jahre alt. Im September 1912 hat er als Zuschauer die Kaisermanöver miterlebt, im Sommer 1913 in Chur die Rekrutenschule absolviert und gleich anschliessend die Unteroffiziersschule in Bellinzona; im Oktober immatrikuliert er sich – ohne Matura – an der Universität Neuenburg (was er zeitlebens als einen seiner Meisterstreiche bezeichnete). Nach weiteren Militärdienstwochen im Tessin setzt er seine Studien an der Universität Genf fort.
Im Juli 1914 kehrt Inglin nach Schwyz zurück, um sich nach den Ferien in Bern zu immatrikulieren, muss aber Anfang August einrücken und wird erst im Frühjahr 1915 entlassen. Am 27. Juli beginnt er in Zürich die Offiziersschule ; die Verlegung bringt ihn erneut ins Tessin: «Zuerst erfreut über Sonne und südliche Landschaft. Dann: der Dienst als Fessel. Überdrüssig. Ich will nicht mehr Nationalist sein, sondern Weltbürger. Das Vaterland? Hm, jeje. Aber jeder Mensch ist mein Bruder.» Für die Zeit des Ersten Weltkriegs weist Inglins Dienstbüchlein volle 642 Tage Militärdienst aus. Im «Schweizerspiegel» gestaltet er, zwanzig Jahre später und im Vorfeld des nächsten Weltkriegs, was er «in diesen vier Grenzdienstjahren am eigenen Leib erlebte und an weltgeschichtlichen Vorgängen mitfühlte, mitdachte» und stellt die Schweiz – rückblickend und vorausschauend – in einen europäischen Zusammenhang: «Nie war die neuere Schweiz in ihrem Dasein, ihrer Problematik, ihren Lebensäusserungen so deutlich gewesen, so blossgelegt worden wie in jenen vier Jahren.» Im Spannungsfeld zwischen Deutsch und Welsch, zwischen links und rechts, zwischen privaten Wünschen und staatsbürgerlichen Pflichten will er am Beispiel einer einzelnen Familie «erzählend alles lebendig machen, die unheimlich friedliche Windstille vor dem Sturm, den bestürzenden Anbruch der Katastrophe, die allgemeine fieberhafte Aufregung, die Mobilisation der Armee, Eidesleistung, Auszug und Aufmarsch der Truppen an die Grenze, den langen Wachdienst mit seinen mannigfaltigen und merkwürdigen Erfahrungen, die andauernde Erschütterung des politischen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens, den Generalstreik, die Grippe.» |