Fokusthemen

Topofiktionen

Ingoldau ist Welt, seine Bewohner sind Menschheit.»

Meinrad Inglin: Die Welt in Ingoldau (1922)

Kein Zweifel, Inglin, der Augenmensch, hat immer wieder seine nähere Umgebung oder überhaupt selbst Erlebtes zu seiner Welt gemacht, konkret also etwa den Schwyzer Talkessel oder die Berge im weiteren Umfeld oder auch seine Jugendgeschichte oder Erlebnisse aus dem Militär. Analoges gilt für seine Figuren: Ältere Leute aus Schwyz und Umgebung können immer noch deren Urbilder nennen. Zumindest glauben sie, solche zu erkennen.

Wirklichkeit als Stoffgrundlage

Allerdings betonte Inglin auch in mehreren Briefen, das gegenständlich Reale sei nur Stoffgrundlage. Je nach Werk nimmt er denn auch Änderungen an ihr vor. Insgesamt geht es ihm offensichtlich darum, anhand topografischer Realitäten oder auch einzelner Charaktere seine Erzählwelten als beispielhaft für allgemeine Wahrheiten hinzustellen. Mit andern Worten: Was er aus der historischen oder topografischen Wirklichkeit bezieht, das ist nicht einfach eine Beschreibung der Wirklichkeit wie in einem Geschichts- oder Geografiebuch. So wehrte sich Inglin zum Beispiel dagegen, dass viele seiner Leserinnen und Leser  nur auf diesen Wiedererkennungsaffekt aus waren.

Autofiktion

Das bedeutet nicht, dass die historische Realität einfach bedeutungslos wäre. Inglin hatte ja gewiss seine Gründe, dass er sich so genau an sie hält. Die Biografie seines Werner Amberg  im gleichnamigen Roman (1949) zum Beispiel gleicht weitgehend seinen eigenen Jugendjahren, aber dieser Bezug ist nur der Ausgangspunkt für seine Arbeit am Roman, der Zielpunkt ist eine  künstlerische Struktur, die aufzeigt, wie sich ein Jugendlicher zu seiner genau ihm eigenen Persönlichkeit durchringt.  So schrieb er zum Beispiel am 13. Juni 1950 dem Schwyzer Kollegilehrer Paul Kamer: «Die Wirkung meines ‹Werner Amberg› auf die Schwyzer erweckt, was zu erwarten war, den Anschein, als ob ich einen Schlüsselroman geschrieben hätte. Sie können am ehesten ermessen, wie wenig das zutrifft, wie gleichgültig es mir sein muss, ob man hinter meinen Gestalten die Urbilder erkennt oder nicht, und wie hinfällig das Buch wäre, wenn es auf dergleichen angewiesen bliebe.» Er will also nicht seine eigene Jugendgeschichte erzählt haben, sondern die seiner Romanfigur Werner Amberg.  All die exakten Einzelheiten der historischen Wirklichkeit erfahren in der Fiktion eine Verwandlung, die ihre Provenienz nicht mehr als das Entscheidende erscheinen lässt. Ergo: ein auf das Stoffliche fixiertes Interesse liest am Text vorbei. Ein Buch wie Werner Amberg könnte man heute eine Autofiktion nennen.

Topofiktion

Immer wieder wird das tatsächlich Erlebte oder Gesehene auf eine metaphorische Ebene gehoben. Dank ihr sollen anthropologische Gesetzmässigkeiten erkannt werden.  So ist die Welt in Ingoldau (1922) nicht einfach das Dorf Schwyz, vielmehr kann es als ein Modell für eine menschliche Gemeinschaft aufgefasst werden, ähnlich wie wir das ja auch sonst kennen aus der Schweizer Literatur; man könnte das Land Andorra bei Frisch oder das Dorf Güllen bei Dürrenmatt als Beispiele anführen. Auch die Bergwelt und die Natur erfasst Inglin in ihrer Gesetzmässigkeit.  Die Erzählung Die Furggel (1948 im Erzählband Güldramont) etwa bezeichnet einen Ort in gebirgigem Umfeld; er ist dort, schon von der etymologischen Herkunft her, eine Gabelung im Gelände, also zum Beispiel eine Wasserscheide oder eine Wegverzweigung. In Inglins Erzählung steht das Wort Furggel aber auch für die Gabelung in der zeitlichen Dimension, also zum Beispiel in einer Biografie beim Verlust eines Elternteils, der zwingt, einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Man könnte Inglins Umgang mit Orten darum auch Topofiktionen nennen.

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