Individuum und Gesellschaft
Aber ich will nichts werden, ich will gar nichts werden, ich pfeife auf alles...»
Ausgerechnet er! Dieser Meinrad Inglin, der vor einigen Jahrzehnten noch für einige da und dort wie ein biederer oder patriotischer Landesfreund daherkam, nachgerade unkritisch angepasst zuweilen gar – ausgerechnet er wurde zu seiner Zeit hie und da als allzu kritisch wahrgenommen. Heute werden ja seine Sicht- und Schreibweisen von kompetenten Leserinnen und Lesern gerühmt. Aber zu seinen Lebzeiten (1893-1971), da fühlte er sich zuweilen schon etwas allein auf weiter Flur.
Gesellschaftskritik
Seine Gesellschaftskritik stiess vor allem nach seinem ersten, in den Weihnachtstagen des Jahres 1922 veröffentlichten Roman Die Welt in Ingoldau auf Widerstand. Das sei ein «freches und zynisches Buch», so schrieb die katholisch-konservative Presse (Vaterland 30. Dezember 1922); und weit herum sahen sich Bürgerinnen und Bürger der katholischen Innerschweiz verunglimpft. Man komme um den Eindruck nicht umhin, Inglin habe seine Mitwelt «in den Grund hinein verlästern und ärgern wollen». In Schwyz, so sagt man, sei er mit Steinen beworfen worden; er musste zu einem Freund nach Zürich fliehen.
Später ärgerte weniger seine Gesellschafts- und Kirchenkritik als vielmehr die staatspolitische Stossrichtung. Man staunt heute: Sogar im 1938 erschienenen Schweizerspiegel fanden einige Literaturkritiker zu viel kritische Substanz, wird doch dieser Roman heute nachgerade als typisches Beispiel für ein literarisches Werk aus der Zeit der Geistigen Landesverteidigung hingestellt.
Das Individuum im Grossen Ganzen
Sein Protest war für Inglin selber durchaus eine Gewissensfrage. Beim Berner Philosophieprofessor Paul Häberlin, dessen Vorlesungen er in den Jahren von 1916 an besuchte, lernte Inglin eine Ethik kennen, die individuellen Unterschieden gerecht zu werden versuchte. Nicht alle müssen dieselben Gewissensforderungen erfüllen, wie es der Konformitätsdruck der katholischen Kirche wollte.
Das Individuum also betont er. Kommt da nicht die Gemeinschaft zu kurz? Häberlin forderte, zwischen Individuen solle eine konvergierende Richtung walten, nämlich «auf die seinsollende Gestalt des Ganzen hin». Und eine solche Gestalt bestimmte auch Inglins staatspolitische Optik. Figuren wie Junod im Schweizerspiegel (1938) oder der Schwarze Tanner in der gleichnamigen Novelle (1947) belegen diese Konvergenz.
Natur und Geist
Dabei sollen Natur und Geist in eine wechselwirkende Spannung treten und ein Gleichgewicht anstreben: Ratio und Gefühl sollen sich nicht verselbständigen. Im Schweizerspiegel haben darum die Staatsbürger Zukunftspotenzial, die weder den verstandeseinseitigen Ideologien noch den naturgetriebenen Affekten verfallen. Denn sie stellen «eine von der Erde nicht mehr gebundene und von Vorurteilen noch nicht ernstlich gehemmte Kraft dar, mit der alles möglich schien».
Auch die Kunst soll auf dieses Gleichgewicht zutreiben – im Zusammenspiel von Sinnlichkeit im Inhalt und Geist in der Form. Deutlich zeigt das Inglin in der märchenhaften Erzählung Meister Sebastian (1950). Der Meister erweckt seine Holzfiguren zum Leben, dies hat für seine Mitbürger etwas Unheimliches, gerade weil es auch das heimlich allzu Vertraute ist wie zum Beispiel der Tod. Das erweckt die Kritik von Seiten der Mitwelt. Meister Sebastian muss daher die «Pfeile» aus dieser Mitwelt ertragen, wie der junge Inglin die Attacken aus Schwyz, als sein Ingoldau-Roman das Dorf verstörte.