Bettina und die Musik
Ich indessen schob die Geige unter das Kinn und begann ein zorniges Motiv meiner eigenen Erfindung in gewaltiger Steigerung abzuwandeln, um es zuletzt in einem fünf Minuten dauernden Fortissimo durch alle Tonarten zu hetzen. Darauf folgte eine Pause, eine Pause von unheimlicher Stille, wie man sie in den Konzertsälen leider nicht kennt.»
Wann und wie Inglin die Geigerin Bettina Zweifel kennengelernt hat, lässt sich nicht genau ausmachen (Inglin hat ihre frühe Korrespondenz selbst vernichtet); manches spricht dafür, dass sie sich kurz nach Kriegsende bei Inglins Zürcher Freund Walter Mertens begegnet sind, der den gleichen Geigenlehrer hatte wie Bettina und ein offenes Haus führte. Dass Inglin nach den verschiedenen wichtigen und zufälligeren Bekanntschaften der vergangenen Jahre die neue Beziehung sogleich sehr ernst nahm, zeigt sich schon rein äusserlich in der Redaktorenstelle, die er auf Wunsch von Bettinas Familie im März 1919 annahm, obwohl er längst wusste, dass der Journalismus ihm nicht gemäss war.
Die gegenseitigen Gefühle überdauern auch Inglins Rückzug nach Schwyz und die intensive Arbeit an «Ingoldau»; es scheint zwischen ihnen festzustehen, dass sie heiraten wollen, sobald das irgendwie möglich ist. Noch einmal, 1924, bemüht sich Inglin deshalb um einen bürgerlichen Beruf und sucht eine Stelle als Redaktor oder Verlagslektor, bis ihn sein nächster Stoff, das Grand Hotel Excelsior mit der «Gewalt einer Zwangsvorstellung» ergreift. Die Entscheidung fällt, obwohl er Bettina nach wie vor liebt, endgültig zugunsten des Werks. Zeitweise erwägen sie trotzdem eine Heirat unter Beibehaltung der bisherigen getrennten Lebensführung, aber die Tante widersetzt sich einer nur zivilen Trauung, während eine katholische weder für die Protestantin Bettina noch für Inglin, der aus der Kirche ausgetreten ist, in Frage kommt.
Dennoch bewährt sich die praktische Seite dieser Konzeption; Bettina bleibt zwar in Zürich und unterrichtet weiter an der Musikakademie, kommt aber so oft als möglich in den «Grund», wo sie eine eigene Wohnung hat. An diesem Lebensmuster wird sich auch nach der Heirat, die erst nach dem Tod der Tante erfolgen kann, wenig ändern.
«Im März 1939 heiratete sie den Schriftsteller Meinrad Inglin und erlebte mit ihm in Schwyz eine ungetrübte, glückliche Ehe. Mit ihm zusammen durchwanderte sie fast das ganze Land und bestieg die meisten Innerschweizer Berge, nachdem sie sich schon vorher als tüchtige Berggängerin bewährt und Hochtouren unternommen hatte, so auf den Glärnisch, die Jungfrau, den Mont Blanc. An seiner Seite wirkte sie auch häufig als erste Geigerin oder Bratschistin in Streichquartetten mit, erteilte ausserdem Privatstunden und war besonders bei den Brüdern Schoeck in Brunnen immer sehr willkommen. Sie war in der klassischen und modernen Literatur bewandert, las gelegentlich noch lateinische Texte im Original und schlug auch immer wieder die Bibel auf. Mit starker Anteilnahme folgte sie dem Schaffen ihres Mannes, und wenn ein neues Buch von ihm vorbereitet wurde, machte sie sich in den Korrekturbogen gern auf die Jagd nach Druckfehlern. Im Werk ihres Mannes, der ihr seinen Roman ‹Werner Amberg› widmete, erlebte sie die reinsten Lesefreuden. Sie war eine lebensfrohe Natur und als Mensch von völliger Lauterkeit», heisst es am Schluss des knappen Nachrufs, den Inglin nach ihrem Tod am 23. Juni 1969 schreibt.