Fokusthemen

Das Heilige und das Unheilige

Ich bekenne mich zum Christentum, aber zu keiner Kirche.»

Meinrad Inglin: Vertrauliche Mitteilung (1960)

Darf man das? Darf einer einen Roman veröffentlichen, der ein ganzes Dorf aufwühlt? Meinrad Inglin hat das in den Weihnachtstagen 1922 getan, mit seinem Erstlingsroman Die Welt in Ingoldau.

Ein freches und zynisches Buch

Und er hat wirklich viele Mitbürgerinnen und Mitbürger aus seinem Herkunftsort Schwyz verärgert. Einer ihrer Wortführer betonte im Luzerner Vaterland vom 30. Dezember 1922, in einem katholisch-konservativen Organ also: «Nicht bald ist uns ein so freches und zynisches Buch in die Hände geraten.»

Und der Zeitungseinsender erklärt auch, warum dieses erste veröffentlichte Inglin-Buch verstörte:  Man lese es «mit wachsendem Widerwillen und mit dem grössten Eckel [sic!]».  Inglin habe darin «seine Mitbürger in den Grund hinein verlästern und ärgern wollen», so war weiter zu lesen. «In widriger Weise» werde «Heiliges (im besondern die Beicht [sic!]) und Unheiliges einander an die Seite gestellt, das Lüsterne und Frivole mit offensichtlicher Lust gesucht».

Heiliges und Unheiliges

Die Kritik an der Verbindung von Heiligem und Unheiligem, also wohl Weltlichem oder, im Falle des Lüsternen und Frivolen, allzu Weltlichen, sie ist bezeichnend für die damals dominante Mentalität im Innerschweizer Katholizismus. Ebenso muss nicht erstaunen im Hinblick auf diese Denkweise, dass das Beichtsakrament im Vordergrund steht. Es hatte in der Tat eine prominente Stellung, denn es richtete sich nach den Sündenlisten und  -handbüchern – mit andern Worten: Dominant war, in eins mit der Beichte, die Moral. Auf sie war der damalige Innerschweizer Katholizismus förmlich reduziert. Dümmer noch: Es war eine Lohnmoral, mit ihr konnte man Jenseitskapital häufen. Je nach Sündenbilanz drohten am Ende des Lebens ewige Höllenqualen oder winkten ebenso ewige Himmelswonnen.

Just dieses bilanzierende Denken war Gegenstand von Inglin Kritik im Ingoldau-Roman. Er zeigte, was heute für jeden ernsthaften christlichen Theologen klar ist: die christliche Liebe, auf sie kommt es an, nicht auf die Beichtspiegel. Sie erwächst aus dem Gottvertrauen, hat darum im Innern des Menschen ihre Quelle und nicht in einem von aussen herangetragenen Normensystem. Und sie muss sich in der diesseitigen Realität bewähren. Weil das Inglin auch so sah, musste er im Roman das Heilige mit dem Unheiligen, sprich dem Weltlichen in eine Verbindung bringen.

Gottvertrauen

Wie wichtig dieses Vertrauen sogar für seine Kunst ist, zeigt ein Satz, den er seinem Meister Sebastian (in der gleichnamigen Erzählung von 1950) in den Mund legt. Dieser Meister in der Anfertigung von Holzskulpturen antwortet auf die Frage, wie ihm sein Kunstwerk mit geschnitzten Figuren gelungen sei:  «Indem ich meine ganze Kunst und alle meine Kraft daran gesetzt, von meinem eigenen wie von fremdem Blut dazu gegeben und im Vertrauen auf den allerhöchsten Schöpfer weder den Teufel noch den Tod gefürchtet habe.»

Das heisst doch: Im Vertrauen auf Gott schauen wir der Realität fadengerade ins Gesicht. Ein Beispiel: Anna im Roman Die Graue March ist arm dran, sie wohnt in der Lauimatt, und das  verbraucht Pachtzinsen; sie ist schwanger, aber ihr Geliebter Wendel ist nicht da, zudem musste sie erkennen, dass immer wieder ein «willenlose[s] Werkzeug einer teuflischen Lust […] mit uns die Erde bewohnt». Im Vertrauen auf Gott bringt sie es fertig, dass sich alles zum Guten wendet. Sie bringt ihren Wendel zurück, erhält die Lauimatt geschenkt und kann neben den teuflischen Seiten auch die guten Aspekte der Welt wahrnehmen.

Werke
Die Welt in Ingoldau (1922)